Inzidenzschätzung mithilfe von SARS-Cov-2-Genomen

Eine in Nature Communications veröffentlichte Studie rekonstruiert regionale Covid-19 Inzidenzprofile und beleuchtet die Auswirkungen von nicht-pharmazeutischen Interventionen (NPI) sowie unterschiedliche Teststrategien

14. Oktober 2021

Ein Forschungsteam des Robert Koch-Instituts in Berlin und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte (MPI-SHH) erarbeitete eine neue Methode zur Schnellschätzung von Inzidenzverläufen mithilfe von SARS-Cov-2-Genomen die mittels phylodynamischer Methoden umfangreich validiert wurde.

Das tägliche Erfassen neuer Covid-19 Fälle bleibt weiterhin Ausgangspunkt für die Beurteilung der pandemischen Lage und ist insbesondere für Entscheidungen über öffentliche Eindämmungsmaßnahmen unabdingbar. Jedoch basieren solche Fallzahlen auf einem positiven Testergebnis und sind damit stark von der jeweiligen Teststrategie abhängig. Da die Teststrategien je nach Region sehr unterschiedlich sind und sich während der Pandemie immer wieder änderten, ist ihr genauer Einfluss auf die Zahl der täglichen Neudiagnosen nur schwer vorherzusagen. Deshalb werden zuverlässigere Schätzungen benötigt, um das pandemische Geschehen besser zu verfolgen.

In einem gemeinsamen Projekt haben die Forschenden deshalb eine neue Berechnungsmethode entwickelt, die zeitliche Profile der Virusinzidenz allein anhand genomischer Sequenzen und deren Entnahmedaten ableitet. Da das Virusgenom einem stetigen Mutationsprozess unterliegt, lässt sich anhand der Veränderungen seiner Sequenz im Laufe der Zeit auch die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung verfolgen. „Die Mutationen im Genom des Virus hinterlassen ein Signal, welches es uns ermöglicht, die genetische Vielfalt mit der Größe der Viruspopulation und damit auch der Inzidenz zu verknüpfen“, so Denise Kühnert, Leiterin der tide-Forschungsgruppe am MPI-SHH und Ko-Autorin der Studie.

Das Team führte umfangreiche phylodynamische Analysen mit SARS-CoV-2-Genomen aus vier verschiedenen Regionen (Dänemark, Schottland, Schweiz und dem australischen Bundesstaat Victoria) durch, um die neue Methode zu validieren.

Auswirkungen von nicht-pharmazeutischen Interventionen

Durch die Berechnung stückweise konstanter Schätzungen der effektiven Reproduktionszahl zwischen signifikanten Veränderungen von nicht-pharmazeutischen Interventionen zeigt die Studie mögliche Auswirkungen öffentlicher Maßnahmen auf die Verbreitung und Eindämmung von COVID-19.

Die von vielen europäischen Ländern ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen sind dafür ein anschauliches Beispiel. Im Frühjahr 2020, nach der Umsetzung von strengen Lockdowns in Europa, sank die effektive Reproduktionszahl deutlich unter 1. Als diese Maßnahmen zu Beginn des Sommers 2020 in den meisten Ländern wieder aufgehoben wurden, stieg die effektive Reproduktionszahl auf über 1.

Wenn Fälle unerkannt bleiben

„Indem wir unsere Ergebnisse mit den jeweiligen Fallzahlen verglichen, entdeckten wir, dass während mehrerer Phasen COVID-19-Erkrankungen unerkannt blieben“, so Ariana Weber, Doktorandin in der tide-Forschungsgruppe und ebenfalls Ko-Autorin der Studie. „Dazu zählten beispielsweise die ersten Infektionswellen in Schottland und Victoria sowie kleinere Wellen während des Sommers 2020 in Europa, die in den diagnostischen Fallzahlen nicht erkennbar sind“, fügt Weber hinzu.

Relative Fallerkennung

Anhand des mit der neuen Methode erstellten Inzidenzkorrelats und öffentlicher Daten über eingesetzte Teststrategien konnten die Forschenden die Fallerkennungsrate im Zeitverlauf berechnen. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass eine Erhöhung der Testkapazität zu einem höheren Anteil an entdeckten Fällen führt. Überraschenderweise sinkt jedoch die Entdeckungswahrscheinlichkeit, wenn die Kriterien für die Tests gelockert werden. Dies wäre eine mögliche Erklärung für die erhöhte Dunkelziffer in Europa im Sommer 2020, als lockerere Testkriterien mit unveränderten Testkapazitäten kombiniert wurden.

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