Nach Ankunft der Europäer starb auf Guadeloupe die Hälfte der Schlangen und Echsen aus
Fossile Daten offenbaren Hauptursachen und Ausmaß des Artensterbens in der Kolonialzeit
Eine aktuelle Studie in Science Advances analysiert fossile und archäologische Aufzeichnungen, um zu zeigen, dass in den Jahrhunderten nach 1492 mehr als 50 Prozent der Schuppenkriechtiere des Archipels ausstarben; das Artensterben war damit sehr viel größer als bislang bekannt.
In den letzten Jahren haben die Belege für den Einfluss des Menschen auf die Erdsysteme Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler veranlasst, ein neues Erdzeitalter „auszurufen“: Das Anthropozän, in dem die Aktivitäten des Menschen ein wesentlicher Treiber für Klima- und Ökosystemveränderungen sind. Das Ausmaß und die Ursachen des Verlusts an Biodiversität in den letzten Jahrhunderten sind jedoch noch weitgehend unbekannt.
Eine neue Studie unter der Leitung von Dr. Corentin Bochaton und Prof. Nicole Boivin vom Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte (MPI-SHH) zeigt, dass das Artensterben bei Schlagen und Echsen auf Guadeloupe nach der europäischen Besiedlung weitaus größer war als bisher angenommen. Das Team, zu dem auch Wissenschaftler/-innen des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), des Muséum National d'Histoire Naturelle (MNHN), des Institut de Recherche pour le Développement (IRD) und des Institut National de Recherche pour l'Agriculture, l'Alimentation et l'Environnement (INRAE) gehörten, untersuchte die außergewöhnlich hohe Anzahl von 43.000 tierischen Überresten aus fossilen und archäologischen Sammlungen auf sechs Inseln des Archipels und fand heraus, dass 50 bis 70 Prozent der Squamatenarten (Schuppenkriechtiere) auf Guadeloupe nach der Besiedlung durch die europäischen Kolonialisten ausstarben.
Dieser enorme Verlust an Biodiversität steht im starken Gegensatz zu den Aufzeichnungen aus der vorkolonialen Zeit, die zeigen, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen mit den Schlangen und Echsen der Inseln über Tausende von Jahren koexistierten. Tatsächlich hat die Artenvielfalt der Schlangen und Echsen auf Guadeloupe während der langen Geschichte der indigenen Besiedlung sogar zugenommen. Die Aufzeichnungen enthielten keine Hinweise auf in dieser Zeit ausgestorbene Arten, aber auf die Einführung zweier neuer Echsenarten.
"Die Langzeitdaten aus Guadeloupe sind besorgniserregend", erklärt Professor Boivin, Direktorin der Abteilung für Archäologie am MPI-SHH. "Schlangen und Echsen haben auf Guadeloupe über Jahrtausende hinweg ein breites Spektrum an klimatischen, umweltbedingten und vom Menschen verursachten Veränderungen überstanden. Sie scheinen keine empfindlichen Tiere zu sein. Doch in den letzten paar hundert Jahren hat ihre Vielfalt stark abgenommen."
Die neue Arbeit unterstreicht das Potenzial archäologischer und fossiler Aufzeichnungen für unsere moderne Welt hoch relevante Informationen zu liefern.
"Unsere Forschung plädiert nachdrücklich für die Untersuchung der Biodiversität der Vergangenheit, um aktuelle Fragen des Naturschutzes anzugehen, und für die Untersuchung von weniger charismatischen Tieren wie Reptilien, die ein wesentlicher Bestandteil tropischer Ökosysteme sind", sagt Bochaton.
Die Verwendung fossiler Daten aus Guadeloupe ermöglichte es dem Team, die Dynamik des Aussterbens detailliert zu untersuchen und Zusammenhänge zwischen der Körpergröße der Arten, ihrem bevorzugten Lebensraum und ihrem Aussterberisiko aufzudecken. Mittelgroße, terrestrische Arten erlitten die größten Verluste, was darauf hindeutet, dass durch die Kolonialisten eingeführte Säugetier-Raubtiere wie Mungos und Katzen die Hauptursache für das Aussterben der Reptilien auf Guadeloupe sind.
Die Aussterbetrends verdeutlichen auch die Auswirkungen der Umstellung auf die intensivere koloniale Landwirtschaft. Die Zerstörung und Fragmentierung der Lebensräume in Kombination mit der Veränderung des Bodens und der Dezimierung der Insektenpopulationen übte einen enormen Druck auf die Schlangen- und Echsenarten von Guadeloupe aus.
"In den vergangenen Jahren hat die Wahrnehmung der frühen menschlichen Einflüsse zu einer Art Akzeptanz des Menschen als von Natur aus zerstörerischen Spezies geführt", sagt Professor Boivin. "Doch die Daten aus Guadeloupe zeigen deutlich, dass die Lebensweise der indigenen Bevölkerung die Artenvielfalt von Schlangen und Echsen förderte, die der Europäer hingegen nicht. Dies liefert uns wichtige Informationen für künftige Management- und Nachhaltigkeitsinitiativen und stellt einige der Umgangsweisen von Naturschützern mit indigenen Gemeinschaften in Frage."
"Die Budgets für Archäologie sind überall auf der Welt unter Druck", fügt Professor Boivin hinzu, "aber ohne unsere Vergangenheit bewegen wir uns blindlings vorwärts. Die Erforschung der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft müssen miteinander verbunden werden.“