Baumringe als Zeugen menschlicher Geschichte: Bäume in Amazonien offenbaren vorkoloniale menschliche Einflussnahme

Eine neue Studie zeigt, dass die Jahresringe tropischer Bäume eine lebende Aufzeichnung menschlicher Aktivitäten der vergangenen Jahrhunderte im Amazonasgebiet darstellen.

3. April 2019
Der Paranussbaum (Bertholletia excelsa) ist heute weltweit bekannt und war zumindest seit dem frühen Holozän, das vor rund 12 000 Jahren begann, ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Ernährungsstrategien im Amazonaswald. Diese Bäume können Hunderte von Jahren alt werden und werden heute wegen ihrer wertvollen, energiereichen Nüsse bewirtschaftet. Muster in der Etablierung und im Wachstum der Paranussbäume in Zentralamazonien spiegeln über 400 Jahre die Veränderungen der Okkupation durch den Menschen sowie der politischen und sozio-ökonomischen Aktivitäten in der Region wider.

In einer neuen Studie, die am kommenden Mittwoch in der Fachzeitschrift PLOS One erscheint, berichtet ein internationales Forschungsteam unter Leitung des National Institute for Amazonian Research und des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte über den kombinierten Einsatz von Dendrochronologie (Jahresringchronologie) und historischen Dokumenten, um die Auswirkungen gesellschaftlicher und demografischer Veränderungen auf Waldstörungen und Wachstumsdynamiken bei einer neotropen Baumart, dem Paranussbaum, zu untersuchen. Das Forschungsteam nutzte eine nicht-destruktive Methode zur Entnahme winziger Proben von der Rinde des Baumes bis zum Zentrum des Stammes und verglich die Jahresring-Daten von 67 Bäumen, die bis zu 400 Jahre alt waren. Dies ist die erste Studie über den menschlichen Einfluss auf das Wachstum von Bäumen, die bis in die vorkoloniale Zeit in dieser Region Brasiliens zurückreicht. Diese Arbeit bekräftigt auch, dass die vorkoloniale Bevölkerung bleibende Spuren im Amazonasgebiet hinterlassen hat und dazu beitrug, die Struktur des Waldes und dessen Ressourcen im Laufe der Zeit zu verändern.

"Domestiziertes" Amazonien

Bis vor kurzem wurde weithin angenommen, die Wälder im Amazonasbecken seien "unberührt" oder bis zur Ankunft der Europäer kaum besiedelte Naturlandschaften. Die jüngsten archäobotanischen, archäologischen, paläoökologischen und ökologischen Forschungen haben jedoch umfangreiche und vielfältige Hinweise auf die Domestizierung von Pflanzen und deren Verbreitung sowie die Bewirtschaftung des Waldes und von Landschaftseingriffen durch präkolumbische Gesellschaften erbracht.

Jedoch hat die Bewirtschaftung der tropischen Wälder mit der Entstehung der globalen Industriegesellschaften eine Reihe drastischer Veränderungen durchlaufen. Heute dominieren viele wirtschaftlich bedeutsame Baumarten, von denen einige einem Prozess der Domestizierung unterzogen wurden, die Amazonaswälder. Das Wissen über den Wandel der Waldbewirtschaftung, im Laufe der letzten Jahrhunderte, ist deshalb von erheblicher Bedeutung für die menschliche Interaktion mit diesen bedrohten Ökosystemen in der Gegenwart.

"Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass das Wachstum des Paranussbaums die Intensität der Besiedlung und der Bewirtschaftung des Waldes durch den Menschen widerspiegelt. Dies ist ein weiterer Schritt zum Verständnis der entscheidenden Wechselwirkungen, die den Amazonaswald zu der dynamischen, durch den Menschen beeinflussten Landschaft gemacht haben, die er heute ist", sagt Erstautor Victor Caetano Andrade vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte.

Jahresringe als Geschichtsdokumente

In jüngster Zeit haben sich dendroökologische Studien als vielversprechender Weg zur Untersuchung von Umweltveränderungen in tropischen Wäldern erwiesen. Diese Studien werten die bei einigen Baumarten, wie zum Beispiel dem Paranussbaum, jährlich gebildeten Ringe aus, um Informationen über das Alter der Bäume und ihr jährliches Wachstum zu erhalten. Muster bei der Pflanzung der Bäume und abrupte Veränderungen des Baumwachstums, die in den Ringen eines Baumes erkennbar sind, geben Einblicke in die lokalen Umweltbedingungen der Vergangenheit. In der aktuellen Studie arbeiteten die Forschenden in einem Gebiet Mittelamazoniens bei Manaus mit hoher Paranussbaumdichte, in der Region auch als castanhais bekannt. Mit einer nicht-destruktiven Methode entnahmen sie winzige Proben von der Rinde des Baumes bis zur Mitte des Stammes. Insgesamt verglichen sie die Jahresring-Daten aus 67 Baumkernen mit den verfügbaren historischen Informationen über die politischen, wirtschaftlichen und demographischen Veränderungen der letzten 400 Jahre in dieser Region.

Ausgehend von der Interpretation der Jahresringe konnte das Forschungsteam ein Bild der Lebens-geschichten dieser Paranussbäume gewinnen und diese mit der prä- und postkolonialen Bewirtschaftung des Waldes in Beziehung setzen. Die Waldbewirtschaftung in Amazonien beinhaltet oft Praktiken wie die Beseitigung des Unterholzes, das Öffnen des Baumkronendachs, das Fällen von holzigen Kletterpflanzen und den aktiven Schutz individueller Pflanzen. Das Team führte die Studie in der Hoffnung durch, Belege für diese Praktiken in den Jahresringen der Bäume zu finden.

Darüber hinaus sammelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler historische Informationen über die Indigenen des Mura Stammes, welche die Region vor der Gründung der portugiesischen Kolonialverwaltung bewohnten. Ab dem 18. Jahrhundert ging ihre Bevölkerungszahl drastisch zurück, gefolgt von der Entstehung einer neuen postkolonialen Gesellschaft. In der Übergangszeit zwischen der Dezimierung der indigenen Bevölkerung und der Ausbreitung eines postkolonialen politischen Zentrums (der Stadt Manaus) war die Bevölkerungszahl gering. Dies fiel mit einer Periode zusammen, in der keine neuen Bäume in der Region angepflanzt wurden.

Diese Lücke bei der Pflanzung neuer Bäume deutet darauf hin, dass es eine Unterbrechung der indigenen Bewirtschaftungspraktiken gab, die wahrscheinlich auf den Zusammenbruch der Bevölkerung zurückzuführen ist, wie es in vielen anderen präkolumbischen Gesellschaften der Fall war. Eine spätere Periode der erneuten Etablierung von Bäumen, die auch mit Veränderungen der Wachstumsraten bestehender Bäume verbunden ist, steht im Einklang mit dem Übergang zur modernen Waldnutzung gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Das Wissen darüber, wie sich die Praktiken der Waldbewirtschaftung mit der Ankunft der europäischen Kolonialisten sowie der Entstehung von Industriestaaten verändert haben, hat Auswirkungen auf die Zukunft der nachhaltigen Forstwirtschaft und den Naturschutz in Amazonien. "Unsere Ergebnisse geben Aufschluss darüber, wie die Wachstumsringe von Bäumen in Amazonien die Geschichte von Mensch-Wald-Interaktionen aufdecken können", erklärt Caetano Andrade.  "Weitere interdisziplinäre Untersuchungen der Bäume, einschließlich der Verwendung von Gen- und Isotopen-Analysen, sollen detaillierter Aufschluss darüber geben, wie sich die Waldbewirtschaftung in diesem Teil der Welt in der präkolonialen, kolonialen und industriellen Periode verändert hat. Dies kann auch Auswirkungen auf zukünftige Maßnahmen zur Erhaltung der Tropenwälder haben."

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