Lesbarkeit entsteht spontan, anstatt sich langfristig zu entwickeln
Die Ausrichtung der Striche in Buchstaben enthüllt überraschende Muster, die sich in 3000 Jahren kaum verändert haben
Das visuelle Erscheinungsbild der meisten Schriften stimmt mit grundlegenden Einschränkungen des menschlichen visuellen Systems überein und erleichtert so die Wahrnehmung und Verarbeitung der Buchstaben. So sind beispielsweise Kardinallinien, das heißt waagrechte und senkrechte Linien, häufiger als schräge Linien. Doch wie kam es dazu? Hat sich die Lesbarkeit der Schriften durch kulturelle Transformation oder Selektion im Laufe der Zeit entwickelt? Oder haben menschliche kognitive Präferenzen unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung der Schriftzeichen? Um diese Frage zu klären, hat Olivier Morin vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena die Buchstaben von mehr als 100 Schreibsystemen aus aller Welt analysiert und verglichen. Belege für eine langfristige Evolution der Lesbarkeit hat er dabei nicht gefunden, sondern dass die Ausrichtung der Striche in den Buchstaben der meisten Schriften weitverbreiteten Mustern folgt, die bestimmte Ausrichtungen, Symmetrien und Winkel anderen gegenüber favorisieren.
Im Rahmen der jetzt in Cognitive Science veröffentlichten Studie untersuchte Morin die Buchstaben von insgesamt 116 Schriftsystemen aus allen Regionen der Erde und einer Zeitspanne von 3000 Jahren auf Merkmale hinsichtlich ihrer Lesbarkeit. Im Gegensatz zu früheren Studien stand dabei nicht die Topographie, das heißt die räumliche Struktur der Buchstaben, im Mittelpunkt, sondern die Ausrichtung der Linien innerhalb der einzelnen Buchstaben.
Anisotrope Merkmale der Lesbarkeit
Morin nutzte Ergebnisse klassischer visueller Kognitionsforschung, um drei Aspekte der Form von Buchstaben vorherzusagen. (1) Kardinale Linien (wie in E, H, L, etc.), die leichter wiederzuerkennen, zu unterscheiden und zu erinnern sind, sollten häufiger auftreten als schräge Linien (wie in X, Z, W, etc.). (2) Schräge und kardinale Linien sollten getrennt auftreten: Buchstaben, die ausschließlich aus kardinalen Linien (wie E, H oder F) oder ausschließlich aus schrägen Linien (zum Beispiel W oder X) bestehen, sollten häufiger vorkommen als Buchstaben, die beide kombinieren (K, A, Z) (3) Vertikale Symmetrie ist in der Natur weitverbreitet und wird schneller erkannt als horizontale Symmetrie, weshalb vertikal-symmetrische Buchstaben (wie M, A, W, U, etc.) häufiger sein sollten als horizontal-symmetrische (K, D, E, etc.).
Das Vorkommen aller drei Merkmale – Kardinaldominanz, Trennung von schrägen und kardinalen Linien und die Dominanz der vertikalen gegenüber der horizontalen Symmetrie – wurde durch zwei unabhängige Beurteiler für die meisten Schreibsysteme in der Studie bestätigt, die auch seltene Schriften beinhaltet, die sich unabhängig von westlichen Einflüssen entwickelt haben.
„Die kulturelle Adaptation an kognitive Präferenzen braucht vielleicht keine langfristige kulturelle Evolution“
Im zweiten Teil der Studie werden zwei unterschiedliche Hypothesen zur kulturellen Evolution der Lesbarkeit von Schriftzeichen geprüft. Die erste fußt auf der Annahme, dass das Überleben besser lesbarer Schreibsysteme wahrscheinlicher ist als das von schlechter lesbaren. Ausgestorbene Schriften sollten demnach weniger Merkmale einer guten Lesbarkeit aufweisen als heutige Schriften (kulturelle Selektion). Die zweite Hypothese bezieht sich auf den Prozess der Ab- bzw. Aufspaltung von Schreibsystemen. Schriften, die sich aus existierenden Schriften zu neuen und eigenständigen Schriften entwickelt haben, sollten eine höhere Lesbarkeit aufweisen als ihre Vorfahren (kulturelle Transformation).
Beide Hypothesen wurden mittels phylogenetischer Verfahren für jedes der drei Merkmale überprüft. Ein signifikanter Zusammenhang in der vermuteten Richtung konnte lediglich in einem Fall berechnet werden: Die Kardinaldominanz bei noch im Gebrauch befindlichen Schreibsystemen war höher als bei ausgestorbenen. Für alle anderen Fälle ergab sich kein signifikanter oder sogar ein negativer Zusammenhang. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu früheren Studien, welche behaupteten, die Lesbarkeit entstehe durch kulturelle Selektion. „Die kulturelle Adaptation an kognitive Präferenzen“, schreibt Morin, „braucht vielleicht keine langfristige kulturelle Evolution.“
„Es ist eine der Freuden in der Wissenschaft, unerwartete Muster in Dingen zu finden, die man schon eine Million Mal gesehen hat“, kommentiert Morin das Ergebnis der Studie. „Visuelle Forschung kann dazu beitragen, dass wir unerwartete Muster in kulturell gestalteten Formen, wie Buchstaben, finden. Und die kulturelle Geschichte kann uns zeigen, ob diese Muster durch kulturelle Evolution oder das menschliche Gehirn entstehen.“ Der Artikel hat weitreichende Implikationen für die Erforschung von Lese- und Schreibfähigkeit.