Wörter sind kein Zufall

Für viele Begriffe werden auch in nicht-verwandten Sprachen bestimmte Laute bevorzugt oder vermieden

12. September 2016
Die Lehrbücher der Sprachwissenschaft müssen offenbar umgeschrieben werden. Bislang gingen Linguisten davon aus, Laute seien in Wörtern größtenteils zufällig mit Bedeutungen verknüpft. Fälle wie etwa das M, das in vielen Sprachen im Wort für Mutter vorkommt, seien die seltene Ausnahme. Ein internationales Team, an dem Forscher der Max-Planck-Institute für Mathematik in den Naturwissenschaften und für Menschheitsgeschichte sowie der Universität Leipzig beteiligt waren, widerlegt diese Annahme nun mit einer umfassenden Analyse.

N wie Nase – diese Verbindung ist wohl nicht durch Zufall entstanden. Denn ein n gibt es im Wort für das Riechorgan in überdurchschnittlich vielen Sprachen dieser Erde. Das gilt auch für das u; ein a kommt darin dagegen weltweit betrachtet eher selten vor. „Gerade in den Begriffen für Körperteile tauchen manche Laute in besonders vielen Sprachen auf, andere in besonders wenigen“, sagt Damián E. Blasi, Wissenschaftler der Max-Planck-Institute für Mathematik in den Naturwissenschaften und für Menschheitsgeschichte. Er war maßgeblich an einer Studie beteiligt, in der ein Forscherteam unter anderem aus Deutschland, den USA und Dänemark die Zusammenhänge zwischen Lauten und Bedeutungen analysierte.

Die Wissenschaftler verwendeten für die Studie Daten von zwei Dritteln der über 6000 Sprachen, die weltweit gesprochen werden. „Das ist praktisch alles, was als Datensatz zugänglich ist“, sagt Peter F. Stadler, Professor der an der Universität Leipzig und externes wissenschaftliches Mitglied des Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften. In der Sammlung von gut 4000 Sprachen prüften die Forscher für 40 Begriffe, ob diese häufiger oder seltener mit bestimmten Lauten belegt werden, als es der Zufall erlaubt.

Tatsächlich fanden sie solche positiven oder negativen Zusammenhänge in Sprachen, die nicht miteinander verwandt sind, für 30 der Begriffe, nämlich insgesamt 74. So treten in den Wörtern für das Knie häufig die Buchstaben o, u, p, k und q auf. Der Ausdruck für die Zunge enthält in vielen Sprachen ein e und ein l auf, u und k dagegen eher selten. Solche Zusammenhänge sind aber nicht auf Körperteile beschränkt: Sand kommt weltweit oft mit einem a, ein Stein mit einem t. „Unserer Analyse zufolge werden bestimmte Laute bei einem großen Teil aller Begriffe über Kontinente und Sprachfamilien hinweg bevorzugt oder vermieden, und zwar von Menschen, die kulturell, historisch und geografisch sehr verschieden sind“, sagt Damián Blasi. „Das Ergebnis ist gerade in Anbetracht der enormen Variationsmöglichkeiten in den weltweiten Sprachen erstaunlich und verändert unser Verständnis der Randbedingungen, unter denen Menschen kommunizieren.“

Bouba halten die meisten für ein großes, Kiki für ein kleines Tier

„Bislang gingen wir davon aus, dass sich derartige Beziehungen zwischen Lauten und Bedeutungen nur sehr selten finden“, sagt Harald Hammarström, Sprachwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Neben dem m in den Wörtern für Mutter, kannten Linguisten etwa den Bouba-Kiki Effekt: Den beobachten sie, wenn sie Menschen ein großes Tier wie etwa einen Elefanten und ein kleines, zum Beispiel einen Vogel zeigen und fragen, welches der beiden Tiere in einer Sprache, die die Befragten nicht kennen, Bouba und welches Kiki heiße. Die meisten tippen bei Bouba dann intuitiv auf den Elefanten und bei Kiki auf den kleinen Vogel. Generell werden die Vokale a und o eher mit großen Dingen in Verbindung gebracht, und e und i mit kleinen. Doch darüber hinaus war bislang kaum eine solche Beziehung bekannt, die über Sprachfamilien hinweg gilt.

Zu der Auffassung, Bedeutungen fänden größtenteils zufällig zu ihren Lauten, dürften Linguisten auch gelangt sein, weil die vorhandenen Studien kein anderes Urteil zuließen. „Bisherige Untersuchungen beschränkten sich meist auf einzelne Zusammenhänge oder auf eine begrenzte Stichprobe von Sprachen”, erklärt Damián Blasi. “Wir konnten dank der großen Datenmenge, die wir analysiert haben, auch erfassen, wie sich diese Beziehungen räumlich verteilen und mit der Zeit verändern.”

Dass die Zusammenhänge viel häufiger sind als bislang angenommen, fand das Forscherteam mit Werkzeugen der Bioinformatik heraus, die Peter F. Stadler entwickelt hat. Der Mathematiker verwendet die statistischen Instrumente gewöhnlich, um genetische Verwandtschaften in der Biologie aufzudecken. „In das Gebiet der Linguistik bin ich gewissermaßen hineingetaumelt“, sagt Stadler. Zwischen der Bioinformatik und der Linguistik gebe es Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede, auf die er die mathematischen Formeln anpasste.

Tests für statistische Artefakte

Zudem trugen Peter F. Stadler, Damián Blasi und ihre Kollegen alle Faktoren zusammen, die einen Einfluss auf die Zusammenhänge zwischen Lauten und Bedeutungen haben könnten, aber nicht die Aussage unterstützen, dass manche Laute für eine bestimmte Bedeutung weltweit bevorzugt oder gemieden werden. Um solche Artefakte auszuschließen, entwickelten sie dann statistische Tests. Bislang nicht bekannte Verwandtschaften zwischen Sprachen sind solch ein Faktor. Sie können dazu führen, dass in verschiedenen Sprachen die gleichen Laut-Bedeutungs-Beziehungen auftreten. Diese Fälle mussten die Forscher jedoch ausschließen, weil es ihnen nur um die Laute ging, die in nicht-verwandten Sprachen in einem Begriff bevorzugt oder gemieden werden.

Ferner testeten die Wissenschaftler, ob einzelne Laute in einem Begriff häufiger vorkommen, weil das entsprechende Wort von einer Sprache in ein anderes, nicht-verwandtes Idiom übernommen wurde, das in einer benachbarten Region gesprochen wird. Auch die Wortlänge spielte bei der Analyse eine Rolle. Denn je länger ein Wort ist, desto wahrscheinlicher wird es, dass einzelne Laute darin vorkommen. „Auch das würde zu einem statistischen Artefakt führen“, sagt Damián Blasi.

Sie Suche nach der Ursprache wird schwieriger

Mit ähnlichen statistischen Untersuchungen forschte das internationale Team auch nach möglichen Gründen, warum manche Laute für einen Begriff häufiger gewählt werden als andere. „Bislang können wir die Zusammenhänge zwischen Lauten und Bedeutungen nicht erklären“, sagt Harald Hammarström. Zu dem Schluss kam das Team durch statistische Tests für verschiedene Ursachen. So könnten sich etwa Wörter mit bestimmten Lauten für eine Bedeutung leicht von einer Sprache zur anderen verbreiten, wenn diese Kombination allgemein als passender und angenehmer empfunden wird. Dann müsste auf einer Karte der Verbreitungsräume einzelner Laut-Bedeutungs-Beziehungen jedoch zu sehen sein, wie diese von einem Ausgangspunkt aus in benachbarte Sprachgemeinschaften diffundiert. Das beobachteten die Forscher aber genauso wenig, wie den Einfluss einer hypothetischen Ursprache, der sich möglicherweise noch in vielen heutigen Sprachen bemerkbar macht. Gäbe es den, sollten Zusammenhänge zwischen Lauten und Bedeutungen unter den Sprachen nach einem ähnlichen Muster verbreitet sein wie verwandte Wörter. Sind sie aber nicht.

„Für die Sprachwissenschaft haben die Erkenntnisse zu Laut-Bedeutungs-Beziehungen weitreichende Konsequenzen“, sagt Damián Blasi. Vor allem für die Analyse von Verwandtschaften zwischen Sprachen und die Suche nach der Ursprache. In solchen Studien fahnden Linguisten bislang auch nach Lauten, die in verschiedenen Sprachen mit einem Begriff verknüpft sind. „Da hissen wir jetzt eine Warnfahne“, sagt Peter F. Stadler. Denn offenbar bringen Menschen viele Begriffe mit denselben Lauten in Verbindung, ganz unabhängig davon, ob ihre Sprachen miteinander verwandt sind oder nicht.

PH

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