Saatgutverteilung durch den Menschen: Neue Überlegungen zum Ursprung der Pflanzendomestikation

In einem neuen Manuskript argumentiert Dr. Robert Spengler, dass die frühesten Merkmale der Pflanzendomestikation alle mit einer mutualistischen Beziehung verbunden sind, in der die Pflanzen den Menschen zur Verbreitung ihrer Samen rekrutieren.

27. Februar 2020
In den letzten 3000 Jahren hat die selektive Züchtung die Palette der Eigenschaften domestizierter Pflanzen entscheidend erweitert. Ein genauer Blick auf die archäobotanischen Befunde zeigt jedoch, dass bereits bevor der Mensch mit der gezielten Züchtung von Nutzpflanzen begann, eine Reihe einander ähnlicher Merkmale bei den später domestizierten Pflanzen auftrat. In einer aktuellen Studie gibt Robert Spengler, Leiter der archäobotanischen Labore am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena einen Überblick über die frühen evolutionären Anpassungen bei Pflanzen und argumentiert, dass diese eine Reaktion auf die Unterstützung des Menschen bei der Verbreitung des Saatguts darstellen.

Als sich der Mensch der Fähigkeit bewusst wurde, Nutzpflanzen durch selektive Züchtung zu verändern, stieg die Entwicklung neuer Eigenschaften bei diesen Pflanzen stark an und seit die Menschen vor rund 10000 Jahren damit begonnen haben Landwirtschaft zu betreiben, haben sich unsere Nutzpflanzen drastisch verändert. Hominide haben jedoch schon vor dem Aufkommen des Homo sapiens intensiv mit den Pflanzen und Tieren in ihrem Lebensraum interagiert und lange bevor der Mensch begann, sie bewusst durch Züchtung zu verändern, haben Pflanzen auf den selektiven Druck des Menschen reagiert und neue Merkmale entwickelt.

In einer neuen Studie, die am 27. Februar in der Zeitschrift Trends in Plant Science erscheint, untersucht Dr. Robert Spengler diese evolutionären Reaktionen und argumentiert, dass alle frühesten Merkmale, die sich bei den wilden Vorfahren der heutigen Nutzpflanzen entwickelten, in Verbindung stehen mit dem Bedürfnis der Pflanzen ihr Saatgut zu verbreiten und der Unterstützung des Menschen dabei.

 Das Domestizierungssyndrom

Viele der frühesten Merkmale der Domestikation bei Pflanzen sind bei unterschiedlichen Kulturpflanzenarten ähnlich, ein Phänomen, das in der Evolutionsbiologie als parallele Evolution bezeichnet wird. So ist zum Beispiel bei großsamigem Getreide, wie Weizen, Gerste, Reis oder Hafer, das erste Domestikationsmerkmal eine Zähigkeit der Ährenachsenglieder (einzelne Stängel, die die Getreidekörner an der Ähre hält). Und bei allen großkörnigen Hülsenfrüchten, wie Erbsen, Linsen, Favabohnen und Kidneybohnen, ist das früheste Merkmal der Domestikation eine weniger brüchige Schote.

In der Archäobotanik besteht Einigkeit darüber, dass die Entwicklung härterer Ährenachsenglieder bei Getreidekulturen darauf zurückzuführen ist, dass der Mensch sie mit Sicheln erntete. Dabei verloren die Exemplare mit den brüchigsten Ährenachsengliedern ihr Saatgut bereits während der Ernte, während die Pflanzen mit härteren Gliedern davon profitierten, dass ihr Saatgut geschützt und für das folgende Jahr aufbewahrt wurde. Die Menschen beseitigten dann konkurrenzfähige Pflanzen („Unkraut“), bestellten den Boden, säten die Samen aus und pflegten die Pflanzen bis zur nächsten Ernte. Wir können davon ausgehen, dass der gleiche Prozess auch bei den Hülsenfrüchten (Leguminosen) stattfand.

Seit fast einem Jahrhundert ist sich die Forschung der Tatsache bewusst, dass diese parallele Entwicklung das Ergebnis eines ähnlichen Selektionsdrucks von Menschen in verschiedenen Domestikationszentren auf der ganzen Welt war, was zu dem führte, was viele Forschende als "Domestikationssyndrom" bezeichnen. Im einfachsten biologischen Sinne, so Spengler, erhöht der Mensch, im Gegensatz zur Natur, die Chance auf die Verbreitung bestimmten Saatguts einer Nutzpflanze. Dadurch entwickeln diese Pflanzen  Eigenschaften, welche die Landwirtschaft erleichtern und ihre eigenen Reproduktionschancen verbessern.

Die Entwicklung der Streuungseigenschaften des Saatguts bei Kulturpflanzen

In der Archäobotanik wurden die Samenverbreitungsmerkmale bei den wilden Verwandten von Getreide und Hülsenfrüchten untersucht, aber die Frage, wie die wilden Verwandten anderer Kulturpflanzen ihr Saatgut verbreiten, fand bislang nur wenig Beachtung. In seiner neuen Studie überwindet Spengler die starke Konzentration auf diese wenigen Pflanzen und betrachtet auch die Prozesse der Samenausbreitung bei den wilden Vorfahren anderer Kulturpflanzen.

Spengler stellt fest, dass vor der letzten Eiszeit großwüchsige Säugetiere, darunter der Mensch, der Schlüssel für die Entwicklung größerer Früchte in der freien Natur waren. Während einige Pflanzen über mechanische Methoden der Samenausbreitung verfügen, verbreiten Pflanzen ihre Samen am häufigsten durch die Rekrutierung von Tieren. Zum Beispiel haben sich leuchtend rote Kirschen entwickelt, um Vögel mit rot-grünem Farbsehvermögen anzulocken. Die Vögel verzehren die zuckerhaltigen Früchte, fliegen weiter und setzen den Samen der Kirsche in neuen Regionen ab. Größere Früchte können jedoch nur durch größere Tiere verzehrt werden. Das heißt, die Vorläuferpflanzen der meisten Früchte auf unseren heutigen Märkten wurden durch große Säugetiere verbreitet. In der Paläontologie wurde bereits früher die parallele Entwicklung größerer Früchte in vielen nicht miteinander verwandten Pflanzenfamilien bemerkt, mit denen die Pflanzen größere Tiere anlocken konnten. Ein Prozess, der sich laut Spengler in der Entwicklung der vom Menschen angebauten Pflanzen widerspiegelt.

Spengler stellt zudem die Theorie auf, dass große Säugetiere der Schlüssel zur Verbreitung von Samen bei den Vorläufern von kleinsamigem Getreide wie Quinoa, Hirse und Buchweizen gewesen sein könnten. Mit glatten, hartschaligen Samen, die an der Spitze der Pflanze wachsen, ohne sekundäre Abwehrstoffe oder Dornen und mit einer schnellen Wachstumsrate sind die Blätter dieser Pflanzen die perfekte Nahrung für Weidetiere. Die geringe Größe dieser Wildsamen könnte eine evolutionäre Anpassung gewesen sein, die es den Samen erlaubte, erfolgreich durch die Verdauungssysteme von Huftieren zu gelangen, welche oft nur Samen von weniger als zwei Millimetern Größe passieren lassen. Wenn man Domestikation, wie Spengler vorschlägt, als eine durch die Optimierung der Samenausbreitung getriebene Evolution versteht, erklärt das, warum die ersten Merkmale der Domestikation bei allen einjährigen Kleinsamenkulturen eine Verdünnung der Samenschale, eine Zunahme der Samengröße und das Aufbrechen der Ruhephase waren - eine Umkehrung der Merkmale, welche die Samenausbreitung durch weidende Säugetiere ermöglichte. Der Domestizierungsprozess löste die wechselseitigen Bindungen, die diese Pflanzen mit ihren tierischen Samenverbreitern hatten, und machte sie von der Verbreitung vom Menschen abhängig.

Pflanzendomestikation als auf Saatgutdispersion basierende Gegenseitigkeit verstehen

Während des Früh- und Mittelholozäns begannen Pflanzen an bestimmten Standorten auf der ganzen Welt als Reaktion auf menschliche Anbaupraktiken neue Merkmale zu entwickeln. Als die menschlichen Populationen wuchsen und dichter beieinander siedelten, nahm der selektive Druck der Menschen auf diese Pflanzen zu. In der freien Natur entwickeln Pflanzen als Reaktion auf den starken Druck der Pflanzenfresser oft mutualistische Beziehungen. Dieselben evolutionären Reaktionen, so Spengler, sind auf den Feldern der Bauern während der frühen Schritte zur Domestikation zu beobachten, wobei die Pflanzen Eigenschaften entwickeln, die ihre Verbreitung durch den Menschen optimieren.

"Der Mensch ist der erfolgreichste Verbreiter von Samen, den es je gegeben hat. Einige Pflanzenarten hat er über die ganze Welt verteilt", sagt Spengler. "Wir sind dabei, im gesamten Amazonasgebiet alle konkurrierenden Pflanzenarten zu entfernen, um die Samen der Sojabohne zu verbreiten - eine Pflanze, die ursprünglich Merkmale einer mutualistischen Beziehung mit den Menschen in Ostasien entwickelt hat. Ebenso wurden die meisten Prärien des amerikanischen Mittelwestens beseitigt, um Mais anzubauen, eine Pflanze, die der Mensch im tropischen Süden Mexikos domestiziert hat. Der Mensch ist ein hoch effektiver „Samenverbreiter“, und auch die Pflanzen sind bereit neue Eigenschaften zu entwickeln, um ihre Samen zu verbreiten und neue Gebiete erfolgreich zu besiedeln".

"Es ist wichtig“, erklärt Spengler abschließend, „die Domestikation von Pflanzen aus der Perspektive der Evolutionsökologie zu betrachten und nach Parallelen zwischen der Evolution von Pflanzen unter natürlichen Bedingungen und während der frühen Kultivierung zu suchen. Indem wir die Domestikation als einen der Evolution in der Wildnis gleichwertigen Prozess modellieren und die Idee einer bewussten menschlichen Innovation beiseitelassen, können wir die Fragen, warum und wie dieser Prozess stattgefunden hat, effektiver untersuchen.“

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