Interdisziplinäre Studie gewährt neue Einblicke in die Evolution von Gebärdensprachen

Eine Gruppe von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte und der Universität von Texas in Austin hat die weltweite Ausbreitung von europäischen Gebärdensprachen mit Hilfe von Netzwerkmethoden analysiert.

22. Januar 2020
Die interdisziplinäre Studie, die in der Zeitschrift Royal Society Open Science veröffentlicht wurde, beleuchtet die Ursprünge und die Evolution der europäischen Gebärdensprachen. Mit Hilfe von phylogenetischen Netzwerkmethoden verglichen die Forscher fünf grundlegende Abstammungslinien, welche sich in verschiedenen Teilen der Welt seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ausgebreitet haben.

Natürliche menschliche Sprachen werden in zwei grundlegend verschiedenen Modalitäten produziert und rezipiert. Gesprochene Sprachen bedienen sich der "oral-auralen Modalität", und werden gesprochen und gehört, während Gebärdensprachen auf der "gestural-visuellen Modalität" beruhen und sich Gesten bedienen, die visuell wahrgenommen werden. Die Entwicklung und Geschichte gesprochener Sprachen ist relativ gut erforscht und hat in Wissenschaftskreisen viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Man geht jedoch davon aus, dass Gebärdensprachen mindestens so alt sind wie gesprochene Sprache. "Während die Evolution gesprochener Sprachen seit mehr als 200 Jahren erforscht wurde, steckt die Erforschung der Entwicklung von Gebärdensprachen noch in ihren Kinderschuhen," sagt Justin Power, Erstautor der Studie. "Vieles, was wir über die Geschichten der heute gebräuchlichen Gebärdensprachen wissen, beruht auf historischen Quellen, welche den Kontakt zwischen Institutionen von Gehörlosen und Lehrkräften beschreiben. Wir wollten wissen, inwiefern ein Vergleich von Gebärdensprachen mit Hilfe von aktuellen und historischen Quellen neues Licht auf die Entwicklung und Ausbreitung europäischer Gebärdensprachen werfen könnte."

Eine Datenbank historischer und kontemporärer Gebärdensprachen

Viele der in der Welt gebräuchlichen Gebärdensprachen verwenden eine Menge von manuellen Gesten, mit deren Hilfe Buchstaben von Alphabeten dargestellt werden können, welche gehörlose Sprecher verwenden, um geschriebene Wörter zu buchstabieren. Historische Beispiele für diese manuellen Alphabete können für viele Gebärdensprachen gefunden werden und reichen bis in die Zeit zurück, als erstmals Bildungseinrichtungen für Gehörlose im Zuge der Aufklärung in Europa eingerichtet wurden. Nachdem sie eine Datenbank erstellt hatten, die 40 kontemporäre und 36 historische manuelle Alphabete enthält, verglichen die Forscher die manuellen Alphabete mit Hilfe von phylogenetischen Netzwerkmethoden, um die Beziehungen zwischen den Gebärdensprachen zu erforschen. "Für diese Studie haben wir die bisher größte sprachübergreifende, vergleichende Datenbank von Gebärdensprachen entwickelt, die es derzeit gibt," sagt Ko-Autor Johann-Mattis List, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. "Die Datenbank hilft uns, die Evolution der Gebärdensprachen über die letzten Jahrhunderte hinweg zu erforschen, und damit ein klareres Bild von den Ursprüngen der heutigen Diversität der Gebärdensprachen in der Welt zu zeichnen."

Phylogenetische Netzwerkansätze weisen auf fünf Abstammungslinien hin

Das Team wandte Methoden aus der historischen Sprachwissenschaft und der Evolutionsbiologie an, um die wahrscheinlichsten Beziehungen zwischen den Gebärdensprachen herauszufinden. "Obwohl wir mit fundamental unterschiedlichen Daten arbeiten, gibt es doch sehr klare Parallelen zwischen der Evolution von Gebärdensprachen und der Evolution, wie wir sie aus der Biologie kennen," sagt Guido Grimm, der Phylogenetiker des Teams. Mit Hilfe von phylogenetischen Netzwerkmethoden, welche im Gegensatz zu phylogenetischen Stammbäumen auch Muster verarbeiten können, die nicht allein aus der Vererbung von Merkmalen resultieren, sondern auch durch Kontakt erworben worden sein können, gelang es den Forschern, die Gebärdensprachen in der Studie in fünf grundlegende Abstammungslinien zu gruppieren, welche alle in Europa ihren Ursprung haben und sich dann später von Europa aus über die ganze Welt ausbreiteten. "Die Netzwerkmethoden erlauben es uns, die komplexe Evolution der Abstammungslinien, der manuellen Alphabete, und sogar individueller manueller Gesten im Detail zu erforschen," fügt Power hinzu. "Die Integration dieser Methoden mit unserer Forschung zu manuellen Alphabeten verschafft uns ein sehr mächtiges Rahmenwerk zur Erforschung der Evolution von Gebärdensprachen."

Expansionsszenarien beschreiben die Verbreitung von Gebärdensprachen über die Jahrhunderte

Die Studie bestätigte viele aus historischen Quellen bekannte Verbreitungsereignisse, aber sie barg auch einige Überraschungen. Forscherinnen und Forscher, die sich mit der Geschichte von Gebärdensprachen beschäftigen, haben bisher vor allem den Einfluss der Französischen Gebärdensprache auf die Ausbildung Gehörloser und Gehörlosengemeinschaften in vielen Ländern betont, insbesondere im Westen Europas und Amerika. Obwohl die Studie dies grundlegend bestätigen konnte, zeigte sich in den Analysen auch ein beachtlicher Einfluss der Österreichischen Gebärdensprache in Zentral- und Nordeuropa, bis hin zu Russland. Diese Beziehungen waren bisher in dieser Form nicht entdeckt worden. "Wir sind sehr begeistert von unseren Entdeckungen", sagt Power. "Unser interdisziplinärer Ansatz kombiniert traditionelle mit computergestützten Methoden und eröffnet uns neue Möglichkeiten, die evolutionären Geschichten der Gebärdensprachen der Welt zu verstehen."

 

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