Interdisziplinäre Umweltgeschichte: Wenn die Narrative der Vergangenheit auf die Herausforderungen des Anthropozän treffen

Ein neuer Artikel im Journal Annales berichtet über methodische Fragen für die Geschichtsforschung und argumentiert, dass die Herausforderungen des Anthropozäns interdisziplinäre Forschung erfordern, die sich auf eine Vielzahl von historischen Erzählungen stützt

30. November 2022

Berichte über Klimawandel und historische Völker nehmen in der Regel zwei Formen an: entweder sie berichten über schwere Katastrophen durch Klimaschäden oder über die Resilienz einer Gesellschaft, die die Klimaveränderungen überstanden hat.

Ein neuer Artikel berichtet nun über die methodischen Herausforderungen, die bei der Zusammenarbeit von Natur-und Geisteswissenschaften entstehen. Autor Adam Izdebski fordert, dass die Umweltgeschichte über das bisherige Narrativ von Katastrophe und Resilienz hinausgehen muss, um stattdessen eine vielfältigere Geschichte zu präsentieren.

Das Narrativ der Vergangenheit

Da die Auswirkungen des Klimawandels immer sichtbarer werden, ist es besonders wichtig zu verstehen, wie Klima und historische Gesellschaften miteinander interagierten. Bislang wurden Klimaveränderungen jedoch häufig als tragisch und katastrophal dargestellt, mit dem Menschen als Opfer unwirtlicher Bedingungen.

Demgegenüber stehen Berichte über die Widerstandsfähigkeit und Resilienz unserer Vorfahren, die den Klimaveränderungen trotzten. Diese deutlich optimistischeren Geschichten betonen die menschliche Adaption, sind philosophisch konservativer und versuchen, den Status-Quo zu stärken und zu verteidigen.

„Wir sollten beide Narrative nicht ablehnen, sondern die Stärken und Schwächen von beiden Motiven erkennen, um neue Erzählweisen zu finden, die aufschlussreich und nachhaltig über die Mensch-Klima-Interaktionen berichten können,“ so Hauptautor Adam Izdebski, vom Max-Planck-Institut für Geoanthropologie.

Umweltwissenschaften für Historiker*innen

Um Historiker*innen für die interdisziplinäre Forschung auszurüsten, beinhaltet der Artikel ebenfalls eine umfassende Einführung über die Datenerhebung im Rahmen von paläologischen Umweltstudien.

Nach der Erörterung methodischer Überlegungen stellen die Autoren*innen Fallstudien vor, die anhand von Textquellen und naturwissenschaftlichen Belegen historische Narrative entwickeln.

Eine dieser Fallstudien befasst sich mit dem sogenannten „536-Ereignis“ - dem ersten einer Reihe von Vulkanausbrüchen im sechsten Jahrhundert, von dem angenommen wird, dass es einen großen Einfluss auf die soziale und politische Geschichte eines Großteils der nördlichen Hemisphäre hatten. In den 1980er Jahren begannen Wissenschaftler*innen, Proben aus Eisbohrkernen und Baumringen, die auf Klimaschwankungen hindeuten, mit schriftlichen Aufzeichnungen über das Ereignis und dessen Folgen zu verknüpfen.

Einer dieser Texte, verfasst von dem italienischen Regierungsbeamten Cassiodorus, scheint diese Ansicht zu stützen, dass die Auswirkungen des Ausbruchs weitreichend und lang anhaltend waren. So beschreibt Cassiodorus ein Jahr mit ungewöhnlichem Wetter unter einer meergrünen Sonne und berichtet, wie die staatlichen Getreidespeicher geöffnet werden mussten, um eine Hungersnot aufgrund von Missernten zu vermeiden.

Während diese Darstellung eher eine extreme Situation beschreibt, zeigt die Textanalyse, dass die von Cassiodor beschriebenen Katastrophen und manchmal sogar die genaue Sprache, mit der sie beschrieben werden, in früheren römischen Berichten über meteorologische Anomalien zu finden sind. Diese Anspielungen auf frühere Texte dienen als Warnung, die Schilderung nicht ernst zu nehmen und könnten sogar darauf hindeuten, dass Cassiodor versuchte, noch nie dagewesene Ereignisse im Leben seiner Zeitgenossen in etwas Vertrautes zu verwandeln, wofür die römische Literatur bereits einen Rahmen geschaffen hatte.

„Wir können ähnliche rhetorische Strategien in den heutigen Debatten über den Klimawandel beobachten“, so Kevin Bloomfield, der die Fallstudie über das Ereignis 536 leitete. „Der erste Schritt besteht darin, zu entmystifizieren, was genau der Klimawandel anrichten wird. Vergleiche mit bekannten Phänomenen aus der Vergangenheit lassen die Bedrohung realer und handlungsbedürftiger erscheinen, als es eine Beschreibung wie '3,7 Grad Celsius Erwärmung' könnte.“

Geschichte des Anthropozäns

Mit der Verbreitung paläowissenschaftlicher Ansätze zur Erforschung der Vergangenheit, die von menschlichen Krankheiten und Migration bis hin zu Landschafts- und Klimaveränderungen reichen, steht der geisteswissenschaftlichen Geschichtswissenschaft eine Fülle neuer Erkenntnisse zur Verfügung, die sie in ihre Erzählungen über die Vergangenheit einbeziehen kann. Das neue Papier stellt praktische Ansätze für die Integration von Natur- und Geisteswissenschaften vor und argumentiert, dass die Herausforderungen des Anthropozäns neue historische Erzählungen erfordern, die durch interdisziplinäre Untersuchungen der Vergangenheit entwickelt werden.

 

Zur Redakteursansicht