Klimabilanz für 2023: "Wir müssen den gesellschaftlichen Wandel beschleunigen"

Ricarda Winkelmann ist der Shootingstar in der Erdsystemforschung. Wir haben sie um eine Bilanz und eine Einordnung des besonderen Klimajahres 2023 gebeten.

Wie ist aus Ihrer Sicht der Klimaschutz nach dem UN-Gipfel in Dubai zu beurteilen: Reicht es für eine globale Klimawandelwende?

Ein entscheidender Schritt ist zumindest erreicht worden. In der von allen Staaten beschlossenen Abschlusserklärung wird zum ersten Mal explizit ausgesprochen, dass eine Abkehr von fossilen Brennstoffen notwendig ist und dass wir deren Nutzung rapide zurückfahren müssen, um eine echte Klimawandelwende zu erreichen. Wissenschaftlich ist das natürlich seit Langem klar, aber bisher wurden fossile Brennstoffe in den Abschlussdokumenten nicht erwähnt.

Das Dokument zeigt für mich ganz deutlich auf, dass es kein Weiter-so geben wird und dass es über alle Branchen hinweg Veränderungen geben muss, um als Weltgemeinschaft klimaneutral zu werden. Ob das jetzt hinreichend schnell passiert, bleibt allerdings abzuwarten, denn bezüglich der hierfür notwendigen Schritte der einzelnen Akteure bleibt die Abschlusserklärung auf der COP28 leider vage. Es fehlen konkrete, überprüfbare Klimaziele für die kommenden Jahrzehnte. Die Folgen der Klimaerwärmung werden daher auch leider erst mal weiter zunehmen.

Welche dieser Folgen halten Sie denn aktuell für die bedrohlichsten?

Aktuell sind das vor allem die Wetterextreme, die regional immer wieder zu verheerenden Folgen führen. Wie in den Berichten des Weltklimarats IPCC schon lange prognostiziert, haben solche Extreme durch den menschengemachten Klimawandel deutlich zugenommen, und diese Entwicklung wird sich auch in Zukunft weiter fortsetzen.

In diesem Jahr reichten die Folgen von den Waldbränden in Griechenland und Nordamerika über die massive Gletscherschmelze in den Alpen bis hin zu den Hitzeextremen nicht nur hier in Europa, sondern überall auf der Welt. 2023 wurden auch großflächige Hitzerekorde bei den Ozeantemperaturen erreicht. Das kann globale Folgen haben, weil der Ozean bei Weitem den größten Teil der überschüssigen Wärme im Klimasystem schluckt - als Wärmepuffer ist er deshalb für das Klimasystem von besonderer Bedeutung. So könnten die hohen Temperaturen im Atlantik zum Beispiel auch mit zu den diesjährigen Sommerhitzewellen in Europa beigetragen haben. Allein in Deutschland waren dabei doppelt so viele Menschen extremen Temperaturen von über 35 Grad ausgesetzt wie im Mittel zwischen 1980 und 1999 - ein weiteres Zeichen dafür, dass der Klimawandel auch direkt bei uns angekommen ist. Was mich bei all diesen Folgen aber am meisten beunruhigt, ist, dass wir auch vergangenes Jahr trotz aller Diskussionen zum Klimawandel wieder einmal mehr Kohlendioxid ausgestoßen haben als je zuvor. Das heißt, die bisherigen Maßnahmen reichen für eine echte Wende bei Weitem noch nicht aus.

Inzwischen erkennen und prognostizieren trotzdem auch Kollegen von Ihnen ein Abflachen der Emissionen. Können wir Hoffnung schöpfen?

Die Klimaerwärmung ist direkt an den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre gekoppelt, und dieser steigt durch unsere Emissionen noch immer stetig an. Entsprechend steigen auch die globalen Temperaturen. Die wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen liegen alle innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre. Und diese Entwicklung zu immer neuen Rekordtemperaturen wird sich weiter fortsetzen, solange wir den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre weiter erhöhen. Leider lässt uns die Physik des Klimasystems da keinen wirklichen Spielraum.

Könnten die diesjährigen Temperatursprünge bedeuten, dass etwas vor sich geht, was bisher nicht auf dem Schirm ist?

2023 wird als das bislang wärmste Jahr in die Geschichte eingehen. Bis Ende November lag die globale Mitteltemperatur um fast 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Die genauen Ursachen müssen erst noch vollständig verstanden werden, in diesem konkreten Fall wurde die menschengemachte Erwärmung vermutlich durch das Klimaphänomen El Niño noch verstärkt. Viel wichtiger als das einzelne Extremjahr ist aber der Blick auf die langfristige Erwärmung und deren Folgen. Denn die Intensität und Häufigkeit zum Beispiel von Dürren oder Starkregen, die sich aus dieser immer weiter fortschreitenden Erwärmung ergeben, steigen nicht linear, sondern weit überproportional an.

Wie sehen die Folgen bei den Gletschern und Eisschilden, Ihrem Spezialgebiet, aus?

Weltweit schmelzen Gebirgsgletscher rapide ab - die derzeitige Geschwindigkeit ist historisch beispiellos. Davon sind natürlich auch die Alpengletscher stark betroffen: In der Schweiz haben diese innerhalb der letzten zwei Jahre so viel Eis verloren wie im gesamten Zeitraum von 1960 bis 1990. Und Gletscher haben ein langes Gedächtnis, Klimaänderungen wirken sich noch über Jahrzehnte auf sie aus. Bereits durch die jetzige Erwärmung werden daher zahlreiche Gletscher unaufhaltsam schwinden. Das hat weitreichende Konsequenzen, von der lokalen Wasserversorgung über Folgen für die Landwirtschaft und die Energiegewinnung bis hin zum Anstieg des globalen Meeresspiegels.

Auch der Eisverlust von Grönland und Antarktis trägt ja zunehmend zum Meeresspiegelanstieg bei. Was ist dabei ausschlaggebend?

Genau - auch die Eisschilde verlieren beschleunigt an Masse, im Moment jedes Jahr etwa 400 Milliarden Tonnen. Damit könnte man zum Beispiel ganz Berlin fast 500 Meter dick mit Eis bedecken. Dieser Eisverlust wird durch verschiedene Prozesse verursacht: vom zunehmenden Schmelzen an der Eisoberfläche insbesondere in Grönland über das Abkalben von Eisbergen bis hin zum beschleunigten Eisfluss in den Ozeanen durch das Schmelzen an der Unterseite der schwimmenden Eisschelfe, das die Hauptursache für den beobachteten Eisverlust in der Westantarktis ist. Dabei besteht die Gefahr, dass Kipppunkte überschritten werden können - das heißt, dass sich der Eisverlust ab einer kritischen Erwärmung teilweise verselbständigen kann. Wenn die Eisoberfläche Grönlands durch das verstärkte Schmelzen beispielsweise in tiefere Lagen absinkt, kommt das Eis mit wärmerer Luft in Kontakt - dadurch kann das Schmelzen weiter zunehmen, die Oberfläche sinkt in noch wärmere Luftschichten ab und so weiter und so fort. Sind solche selbstverstärkenden Mechanismen erst einmal angestoßen, Kipppunkte also überschritten, würde sich der entsprechende Eisverlust noch über Jahrhunderte fortsetzen.

Das heißt, einige Folgen unseres Handelns werden wir in jedem Fall erst später sehen?

Genau. Selbst wenn wir die globale Erwärmung heute stoppen könnten, wird zum Beispiel der Meeresspiegel weltweit noch über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende ansteigen. Unser heutiges Handeln kann also das Gesicht unseres Planeten über Generationen hinweg verändern. Wir Menschen sind wahrlich zu einer geologischen Kraft geworden. Das betrifft aber nicht nur das Klima, sondern zum Beispiel auch den Verlust von Biodiversität oder das Einbringen neuer Substanzen wie Mikroplastik in unsere Umgebung. Mittlerweile greifen wir in sämtliche Kreisläufe des Systems Erde ein. Diese Verflechtung unseres Handelns mit den biogeophysikalischen Prozessen unseres Planeten erfordert eine ganz neue, interdisziplinäre Betrachtung des Mensch-Erde-Systems.

Auch im neuen Global-Tipping-Points-Bericht, an dem Sie mitgewirkt haben, ist ja deutlich geworden, wie wichtig es ist, Sozial- und Geisteswissenschaften mit einzubeziehen, wenn es darum geht, Lösungen zu finden und damit eine Wende zum Besseren. Welche Rolle spielt das in Ihrer Forschung?

Wir können die Klimakrise nur gemeinsam lösen. Ich bin davon überzeugt, dass wir die enge Zusammenarbeit aller Wissenschaftsdisziplinen brauchen, nicht nur um die zugrunde liegenden Dynamiken zu verstehen, sondern insbesondere auch um mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Daher arbeiten wir in der Klimafolgenforschung seit mehreren Jahren verstärkt in interdisziplinären Teams zusammen. So auch für den Kipppunkte-Bericht, an dem mit mir mehr als 200 Forschende aus aller Welt mitgewirkt haben. Der Bericht beschreibt zum einen die Risiken, die aus dem möglichen Überschreiten von Kipppunkten im Erdsystem erwachsen, zum anderen skizziert er Chancen, wie gesellschaftliche Kippdynamiken den notwendigen transformativen Wandel hin zum raschen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und zur Verringerung der Emissionen aus der Landnutzung beschleunigen können.

Ihre junge Generation hat ein besonderes Interesse, dass die Klimawandelrisiken sich möglichst schnell im öffentlichen Bewusstsein festsetzen und so zum notwendigen Handeln führen. Was wollen Sie tun?

Als Wissenschaftlerin ist meine primäre Aufgabe natürlich zu forschen, neue Erkenntnisse zu schaffen und so hoffentlich dazu beizutragen, Handlungsoptionen zu entwickeln. Gleichzeitig empfinde ich persönlich auch eine große Verantwortung, unsere Erkenntnisse zu kommunizieren. Denn der Klimawandel und seine Folgen betreffen alle Menschen. Und jeder Einzelne von uns kann auch Teil der Lösung sein. Leider wird im Alltag der Klimaschutz als komplexe, dauerhafte Herausforderung von aktuellen Krisen immer wieder in den Hintergrund gedrängt. Dieses kurzfristige Denken können wir uns aber einfach nicht leisten: Wir wissen, dass die schlimmsten Folgen der Klimakrise vor allem von den kommenden Generationen zu tragen sein werden. Es ist wichtig, dass diese langfristigen Auswirkungen in unser Alltagsdenken vordringen: Wir brauchen dringend ein Umdenken in unserem Verständnis und in unserem Umgang mit den relevanten Zeitskalen. Letztlich geht es um die Frage, welchen Planeten wir hinterlassen wollen. Wichtig ist mir daher auch, das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken. Ein Schritt hierzu ist aus meiner Sicht, dass wir nicht nur verstärkt unsere wissenschaftlichen Ergebnisse und Erkenntnisse kommunizieren, sondern gleichzeitig auch unsere Methoden erklären und transparent zugänglich machen. Daher sind zum Beispiel der Code und die Daten aus unseren numerischen Modellen für jeden frei verfügbar.

Welche von den immer dringenderen Empfehlungen der Wissenschaft sehen Sie noch nicht ausreichend berücksichtigt?

Ich sehe im Moment als größte Herausforderung, dass wir den notwendigen gesellschaftlichen Wandel deutlich beschleunigen müssen, um die negativen Folgen der Klimaerwärmung so gut es irgend geht zu begrenzen. Grundsätzlich sind eine Reihe von Ländern zum Beispiel beim Umbau ihrer Energiesysteme hin zu erneuerbaren Energien auf dem richtigen Weg - aber der Wandel läuft insgesamt immer noch zu langsam. Wie sich der entsprechende Übergang zu einer nachhaltigeren Lebensweise ausreichend schnell und dennoch sozial verträglich gestalten lässt, ist daher sicher die zentrale Frage. Dabei wissen wir, dass eine globale Transformation hin zu Netto-Null-Emissionen nicht nur das Klima schützt, sondern auch die globale Ungleichheit reduzieren würde. Aber ich bin überzeugt, dass uns dieser Wandel gelingen kann - wenn sich die Gesellschaft gemeinsam um Lösungen bemüht und die Politik den dafür notwendigen, sozial verträglichen Rahmen setzt. Dann können wir unserer Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten doch noch gerecht werden.

F.A.Z.

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