Spurenlese im Anthropozän

Die Geoanthropologie erforscht den Einfluss des Menschen auf die übrigen Erdsysteme. Am Max-Planck-Institut in Jena arbeitet man an der großen Synthese.

Vor fast zweihundert Jahren zog sich der große Weltreisende und Weltgelehrte Alexander von Humboldt auf Schloss Tegel zurück. Schrieb Nacht für Nacht die Summe seines Lebens nieder, den berühmten "Kosmos", in dem alle Pflanzen, Tiere und Dinge in einem ideellen Zusammenhang stehen sollten. Der anschauende und erlebende Menschen sollte geistig über ihnen schweben. Die Synthese misslang, das Wissen war schon viel zu abstrakt und verästelt, um noch in ein Buch und einen Kopf zu passen.

Wer würde sich heute noch ans große Buch der Natur wagen? Jürgen Renn zum Beispiel. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker sitzt im Konferenzraum des neuen Max-Planck-Instituts für Geoanthropologie in Jena. Großes soll hier entstehen, Kultur und Natur zusammengefasst werden zu einer großen Synthese, die alle Kräfte, die physikalischen, chemischen, biologischen wie die humanen zu einem System der Wechselwirkungen verknüpft. Dafür muss eine ungeheure Zahl von Daten in ein erst noch zu schaffendes Erdmodell eingespeist werden, das eine ganze Reihe von Faktoren verknüpft, die in einem sehr komplexen Verhältnis zueinander stehen.

Das Institut liegt verschwiegen in einer Parkanlage. Im Zentrum eine Gründerzeitvilla mit Jugendstilornamenten, die über eine Brücke mit einem Funktionsbau verbunden ist. Licht flutet durch die Bibliothek. Leises Stimmengeflüster. Viele Büros sind noch leer. Trotzdem herrscht Aufbruchsstimmung. Bis vor einem Jahr war hier noch das Institut für Menschheitsgeschichte, letzten Sommer wurde es neu ausgerichtet. Eine einzige Abteilung, die Archäologie, ist geblieben, auch sie richtet den Blick jetzt auf die Naturfolgen menschlichen Handelns. Vier weitere Abteilungen sollen dazukommen, zur physikalischen Erdentwicklung, zum Zusammenspiel von Bio- und Technosphäre, eine dritte widmet sich der Gelenkstelle zwischen Natur und Gesellschaft. Renn selbst wird den Strukturwandel der Technosphäre untersuchen. Der Begriff steht in etwa für die Gesamtheit menschlichen Handelns in ihren Folgen für die anderen Erdsysteme. Besonders mit der Industrialisierung und der großen Beschleunigung seit den Fünfzigerjahren sei die Technosphäre zu einer eigenen Erdsphäre angewachsen, sagt Renn, die es an Masse mit der Biosphäre aufnehmen könne.

Die Geoanthropologie ist keine ganz neue Erfindung

Sie ist ein Zweig der Erdsystemwissenschaft, die den Einfluss der verschiedenen Sphären aufeinander erforscht. Seit den Achtzigerjahren wuchs dieses Forschungsparadigma zu einer lose gekoppelten Metadisziplin heran. Schrittmacher waren neue Messdaten, die aus der immer genaueren Erdbeobachtung hervorgingen, etwa durch Satelliten, und die Fortschritte in der Datenverarbeitung. In den Neunzigerjahren wurde der Klimawandel zur treibenden Kraft. Schwierig an der Synthese ist, dass die verschiedenen Erdsysteme in einem dynamischen und nichtlinearen Verhältnis zueinander stehen. Kommt es in einem System zu Kipppunkten, hat das unabsehbare Folgen für die anderen Sphären.

Die NASA legte 1986 mit dem Bretherton-Modell erstmals einen Standard vor, der alle relevanten Erdsysteme erfasst. Der Mensch steht in dem Diagramm rechts außen. Als Kohlendioxidemittent, Landnutzer und Müllproduzent ist er mit den übrigen Systemen verbunden, neudeutsch gesprochen: als Umweltsau. Das Modell war noch recht grob gestrickt. Die Geoanthropologie will den menschlichen Einfluss in den Vordergrund rücken und auf Zahlen bringen.

"Große Beschleunigung"

Seit Geologen vom Anthropozän reden, gilt er als prägender Faktor im Erdsystem. Doch wie will man seinen Einfluss messen? Bisher habe man das mit dem schiefen Modell des Homo oeconomicus versucht, sagt Renn. Der humane Faktor lässt sich durch Kenngrößen wie den Kohlendioxidausstoß zwar darstellen, aber wie ökonomische und politische Entscheidungen auf ihn einwirken, ist schwer in Zahlen zu fassen. Renn will das Energiesystem im Hinblick auf die Energiewende modellieren. Wie genau das geschehen soll, muss vorerst offenbleiben.

Der zeitliche Ansatz ist die "große Beschleunigung", jene Epochenschwelle um das Jahr 1950. Auch dafür gibt es ein einfaches Modell: das "Hothouse Earth" von 2017. Es zeigt eine Reihe von Graphen, die seit den Fünfzigerjahren steil nach oben gehen: Transport, Bevölkerung, Kommunikation, CO2-Ausstoß auf der einen Seite und ihre natürlichen Folgen auf der anderen: Fischfang, Kohlendioxidausstoß, Urwaldrodung, Temperaturanstieg. Auf den ersten Blick geht davon eine ungeheure Evidenz aus. Es sei aber gar nicht so klar, auf welchen Daten sie aufbauten und welche Annahmen dahinterstünden, sagt Renn. Er will das Modell auseinanderpflücken und verfeinern. Die Kurven könnten hinterher anders aussehen.

Ziel sind wissenschaftlich abgesicherte Szenarien

Natürlich will die Geoanthropologie auch die Welt retten. Renn versteht sie als engagierte Wissenschaft, die dabei hilft, die Folgen des Klimawandels zu begrenzen. Dafür gilt es, das Zusammenspiel der sozialen und natürlichen Kräfte zu verstehen. Welche Regierungsform ist geeignet, den notwendigen Wandel rechtzeitig herbeizuführen? Welche Rolle spielen der Finanzmarkt und der mutmaßliche Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems? Zum Klebstoffaktivismus bleibt Renn auf Distanz. Er will wissenschaftlich abgesicherte Szenarien präsentieren, die von der Politik aufgegriffen werden können, aber keine politische Expertokratie. Modelle, sagt er, sind wichtig. Aber man müsse auch ihre Unschärfen diskutieren, um Querdenkern keine Flanke zu eröffnen.

Das Faszinierende an der Mensch-Erde-Wissenschaft ist ihr riesiger raumzeitlicher Zugriff. Spuren des Anthropozäns sind schon in den frühzeitlichen Urwäldern zu finden. Urwälder sind keine ruhenden Inseln im Herzen der Zivilisation, wie die Wissenschaft bis in die Achtzigerjahre angenommen habe, sagt Patrick Roberts, der am Institut die Arbeitsgruppe Isotropic leitet. Sie seien schon viel früher besiedelt worden als gedacht, etwa von den Aborigines in Westaustralien. Die sanften Kultivierungsmethoden der Indigenen sind heute ein Vorbild für die Bewirtschaftung, etwa die niedrigschwelligen Brandrodungen, die positive Wirkung auf Flora und Fauna hatten.

Würde der Amazonas zur Savanne, beschleunigte sich der Klimawandel dramatisch, mit katastrophalen Folgen für andere Erdsphären. Vor 120.000 Jahren war die letzte Warmzeit mit einem Temperaturanstieg von fast zwei Grad. Aber damals ging alles viel langsamer. Das heutige Zeitraffertempo strapaziere die Selbstheilungskräfte der Biosphäre, sagt Renn, und die Technosphäre habe diese Rückkopplungsschleifen höchstens ansatzweise eingearbeitet.

Für nachträgliche Reparaturarbeiten bleibt nicht viel Zeit. Für Renn bedeutet das eine gigantische Netzwerkarbeit: Disziplinen zusammenführen, ohne das jeweilige Profil zu verwässern, Forschungsfragen schärfen, Modelle erarbeiten, politische Szenarien ableiten; ein neues Gebäude muss her, und eine Max-Planck-School ist im Aufbau. Am Buch der Natur schreibt heute ein großes Netzwerk. Gelingen werde es nur, sagt Renn, wenn Bürowände nicht zu Grenzen werden. Man kann das eine Minimalforderung nennen.

F.A.Z.

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